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Hirtenbrief von Bischof Dr. Wiesemann zur österlichen Bußzeit 2019

|   Bistum Speyer

Geistliche Macht zeigt sich einzig und allein im Dienen

Liebe Schwestern und Brüder!

„Höhepunkt und Quelle“ des ganzen Lebens der Kirche ist die Liturgie, insbesondere die Feier der Eucharistie. In ihr wird der „Bund Gottes mit den Menschen neu bekräftigt“. Hier werden „die Gläubigen von der drängenden Liebe Christi angezogen und entzündet.“1 Das II. Vatikanische Konzil hat der ganzen Kirche die Erneuerung der Liturgie durch die aktive Mitfeier aller Gläubigen ins Herz geschrieben. Glaubens- und Lebensgemeinschaft werden hier im Innersten verbunden. Unser alltägliches Leben wird vor Gott getragen und von ihm her verwandelt. Dadurch werden wir zu einer neuen Gemeinschaft, zu einem Leib in Christus. Diese Gemeinschaft aber ist nicht für sich selber dar. Sie hat einen Auftrag für die Welt. Sie soll die Keimzelle sein für den Bund Gottes mit allen Menschen, für die Versöhnung und den Frieden, für die „Einheit der ganzen Menschheit“.2 Die Eucharistie als Höhepunkt und Quelle des ganzen Lebens der Kirche zielt aus ihrem eigenen Wesen heraus auf die Offenheit zur Welt hin. Schon das Wort heilige Messe ruft uns den missionarischen Charakter in Erinnerung: Geht hinaus, ihr seid gesendet! Von einem selbstgenügsamen Rückzug ins Eigene ist hier mit keinem Wort die Rede.

Auf diesem Hintergrund können uns die seit vielen Jahren beständig sinkenden Kirchenbesucherbezahlen nicht gleichgültig lassen. Ich weiß um die vielen Haupt- und Ehrenamtlichen, die sich für lebendige Gottesdienste in unseren Pfarreien und Gemeinden und an den vielen anderen Orten von Kirche mit großem Engagement und viel Liebe einsetzen. Ich bin zutiefst dankbar für jede und jeden, die bereit sind, in der Leitung von Wortgottesfeiern, als Lektorin oder Lektor, bei der Austeilung der heiligen Kommunion, als Messdiener und Messdienerinnen, in unseren Sakristeien und bei der Pflege und dem Schmuck unserer Kirchen mitzuwirken. Mein Dank gilt den Treuen, die das vielfältige Leben vor Ort aufrechterhalten. Aber es bleibt doch die auf uns lastende Erfahrung: Wir erreichen so viele Menschen mit dem Großen, das uns von Gott geschenkt und aufgetragen ist, nicht mehr! Für sie alle aber hat sich Christus hingegeben. Dieselbe Liebe, durch die wir im Sakrament seines Leibes und Blutes eins werden in Christus, zielt über uns hinaus auf alle Menschen, wie sie auch leben mögen. Ohne sie bleibt das Geheimnis der Eucharistie unvollständig. Im Herzen der Kirche wohnt der universale Wille Gottes, alle Menschen zum Heil zu führen. Und seine Liebe ist immer konkret: Das ist mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird – für dich und für jeden anderen! Und vor allem ist diese Liebe von innen her frei, ohne jeglichen Anflug von Zwang und Gewalt. Sie ist freie Hingabe bis ins Letzte zur „Vergebung der Sünden“, um alles, mit dem wir Menschen einander Gewalt antun, von innen her zu heilen und zu erlösen.

Wie können Menschen diese liebende Zuwendung Gottes, dieses Geheimnis einer Hingabe, die alles für den anderen wagt, schon bevor dieser irgendeine Gegenleistung bringt, wieder unmittelbarer, berührender, ermutigender, tröstender erfahren? Daraus erwächst eine Gemeinschaft, die getragen ist von einer Kultur der Achtsamkeit und Hilfsbereitschaft füreinander. Eine Gemeinschaft, die mit dem Lamm Gottes die Wehrlosen, Verwundeten und Bedrängten in ihre Mitte stellt. Wie können wir dieses Geheimnis der Eucharistie, aus dem die Kirche lebt 3, wieder glaubwürdiger verkünden, feiern und vor allem leben? Das scheinen mir zentrale Fragen zu sein, in denen sich die dramatischen Herausforderungen unserer Zeit wie in einem Brennglas bündeln.

Liebe Schwestern und Brüder, wir durchleben aktuell eine Krise der Kirche, die uns alle erschüttert. Wir müssen uns in aller Ehrlichkeit und Konsequenz der Wirklichkeit und den verheerenden Auswirkungen stellen, die durch das Verbrechen des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen und Schutzbefohlenen entstanden sind. Das aber betrifft nicht nur die Täter und Mitverantwortlichen, und auch nicht nur Strukturen und Handlungsweisen der Kirche. Es geht tiefer, ins Mark unserer Gottesverkündigung. Es geht ins Herz des Geheimnisses, aus dem die Kirche lebt und das insbesondere uns, als Diener der Kirche, anvertraut ist: die heilige Eucharistie. Es trifft in den Lebensnerv unserer Glaubensgemeinschaft, die mit dem gekreuzigten Christus eine Liebe in ihre Mitte stellt, die ganz von den Verwundeten und Bedrängten her denkt und handelt. Die bittere Frage, der wir uns stellen müssen, lautet: Wie konnte es geschehen, dass der Schutz der eigenen Institution an so vielen Stellen über das Leiden derer gestellt wurde, die durch Diener der Kirche aufs tiefste verwundet wurden?

Für mich geht der Horizont dieser Frage über alle unbestreitbar notwendigen Maßnahmen hinaus, die wir in unserem Bistum zum Schutz von Kinder und Jugendlichen konsequent umsetzen und für die ich als Bischof die Verantwortung übernehme. Wir brauchen sicher mutige Veränderungen und Reformen gegen klerikale Machtzentrierung, die ein stärkeres Miteinander und eine deutlich größere Beteiligung des ganzen Volkes Gottes, von Frauen und Männern, im Hinblick auf die Entscheidungswege und Leitungsvollmachten in unserer Kirche sichern und bewirken. Dafür werde ich mich einsetzen.

Aber darin ist der Horizont der ganzen Frage noch nicht erschöpft. Denn der betrifft das Geheimnis Gottes selbst, wie es uns Jesus Christus geoffenbart hat. Welche Macht und Autorität geht von Christus aus und kann von ihm her legitimiert werden? Welche geistliche Macht ist der Kirche anvertraut, und wann werden Grenzen überschritten? Ich erfahre in meinen Gesprächen mit durch sexuellen Missbrauch Betroffenen häufig – und das erschüttert mich durch und durch –, wie eng ihr Gottvertrauen mit dem Vertrauen in die geistliche Autorität des Priesters verwoben waren, so dass im Augenblick des Missbrauchs beides zutiefst verletzt, wenn nicht gar für das Leben zerstört wurde. Das hier zutiefst beschädigte Vertrauen wirkt sich auf alles aus. Und dann geht es für viele weit über das belastete Verhältnis zur Kirche hinaus um ein lebenslanges Ringen um Gott, um das Grundvertrauen ins Leben und seinen Schöpfer.

Wir können als Kirche die Gottesfrage als drängende Herausforderung unserer Zeit nicht in den Mittelpunkt stellen, wenn wir diese Verletzungen ausblenden, die über den sexuellen Missbrauch hinaus auch aus anderen Formen des Missbrauchs geistlicher Macht und Autorität entstehen können. Hier beginnt für mich die weitergehende Gewissenserforschung.

Die Kirche hat ihren Grund allein in Jesus Christus. Sie hat keine andere Macht und keine andere Sendung als die, die ihr von ihrem Herrn aufgetragen wurde. Alles andere ist Anmaßung. In allem, was sie tut, muss sie Maßnehmen an der Liebe Christi. Wenn das nicht mehr unmittelbar spürbar wird, wird sie wie das schale Salz in der Bergpredigt Jesu, das von den Menschen zertreten wird.

Der Apostel Paulus hat dieses Maßnehmen an der Liebe Christi im Philipperbrief mit einem urchristlichen Hymnus verbunden. Darin haben die ersten Christen das Entscheidende, was Christus in die Welt gebracht hat und worauf sich alle geistliche Macht gründet, auf den Punkt gebracht. Diesen Hymnus beten und betrachten wir in der österlichen Bußzeit immer wieder:
„Jesus Christus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich…, er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod … am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht…“ (Phil 2,6ff)

Dieser Text ist für mich so etwas wie die Präambel zur Verfassung der Kirche. Hier besingen die ersten Christen das, was ihnen als neue Gotteserkenntnis so unter die Haut gegangen ist, dass es ihr Leben grundlegend verändert hat und zur Maßschnur für alles wurde. Gottes Macht zeigt sich ein für alle Mal im Dienen, in der Erniedrigung bis ins letzte der Todesnot, ja, in der Schande des Kreuzes. Gottes Macht besteht aus einer Liebe, die sich bedingungslos ausliefert. Gott gibt jeden Selbstschutz auf. Er entäußert sich all seiner Macht, einzig um dem Menschen den Raum des Vertrauens und einer alles umfassenden Bejahung und Liebe aufzuschließen.

Der Auferstandene ist der Gekreuzigte – das ist die Botschaft der Christen von Anfang an. Es gibt keine Macht der Auferstehung ohne die dienende Hingabe des Gekreuzigten. Die Macht der Auferstehung zeigt sich in den Wunden des Gekreuzigten, weil sie einzig und allein die Macht der Liebe ist. Der Auferstandene zeigt sie den Jüngern, damit sie begreifen lernen, was Auferstehung ist: die neue, erlöste Weise der Begegnung von Gott und Mensch, in der jede Übergriffigkeit und jedes selbstherrliche Gebaren ausgeschlossen ist. Daher sagt der Apostel Paulus: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden, indem ich seinem Tod gleichgestaltet werde.“ (Phil 3,10)

Dieses Geheimnis feiern wir in der Eucharistie als Quelle und Höhepunkt des ganzen kirchlichen Lebens: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“ Alle geistliche Macht nimmt hier ihren Ursprung. Alle Diskussion um Macht und Machtverteilung in der Kirche muss hier ihre Richtschnur finden. Geistliche Macht zeigt sich einzig und allein im Dienen. Jede Art der Bevormundung und Übergriffigkeit ist Amtsanmaßung. Papst Franziskus betont immer wieder den Ort des Dienstamtes in der Kirche: an der Seite der Gläubigen zu ihrem Dienst bestellt, damit sie durch die Unterscheidung der Geister ihre Gewissen bilden und im Glauben mündige Entscheidungen treffen können. Ich danke allen, die auf diese Weise treu ihren Dienst in unserer Kirche verrichten. Eine solche Seelsorge ist nach wie vor nicht nur eine wundervolle Lebensaufgabe, sondern auch im wahrsten Sinne notwendig für unsere Welt.

Liebe Schwestern und Brüder, die Kirche Jesu Christi ist immer auch eine Kirche der Sünder. Gerade sie braucht Umkehr, Versöhnung und Vergebung. Das wird uns zurzeit schmerzlich bewusst. So wird sie immer wieder auf den Gekreuzigten ausgerichtet, der seine Arme ausstreckt, um alle Menschen zu umarmen. Ich bitte den Herrn, dass wir in diesem Jahr den Weg der österlichen Bußzeit so gehen können, dass die Liebe Christi uns in allem erneuern kann. Dazu segne Euch der lebendige und barmherzige Gott.

Ihr Bischof Karl-Heinz

 

Video mit dem Hirtenwort von Bischof Wiesemann:

https://www.youtube.com/watch?v=SjZ-jXgsx8M&feature=youtu.be

 

1 Sacrosanctum Concilium Nr. 10.
2 Lumen Gentium Nr.1.
3 Vgl. Hl. Papst Johannes Paul II, Ecclesia de Eucharistia Nr. 1.

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