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„Mein Gott, dir vertraue ich“

Erstellt von Bischof Karl-Heinz Wiesemann | |   Top 3

Hirtenwort von Bischof Karl-Heinz Wiesemann zum 1. Advent 2020

Liebe Schwestern und Brüder!
„Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele. Mein Gott, dir vertraue ich.“ (Ps 25,1-2) Mit diesem Aufschwung des Vertrauens beginnt die Liturgie des neuen Kirchenjahres. Mit Gottvertrauen sollen wir uns neu ausrichten auf das Kommen Gottes in unsere Welt. Mit seiner rettenden Ankunft in Jesus Christus hat er uns vor 2000 Jahren ein für alle Mal gezeigt: Gott steht an unserer Seite. Er ist hautnah bei uns bis hinein in unsere tiefsten Nöte. Ihm dürfen wir ver-trauen. Und mit ihm können wir dem Leben trauen und es als Geschenk und Aufgabe an-nehmen.
Unsere Fähigkeit wie auch unsere Sehnsucht zu vertrauen – seit einigen Monaten werden sie massiv auf die Probe gestellt: durch ein kleines Virus mit enormen Auswirkungen. Allein in Deutschland haben sich eine Million Menschen infiziert. Über vierzehntausend Menschen sind an bzw. mit dem Virus gestorben. Von den Folgen der Pandemie sind alle Bereiche un-seres Zusammenlebens betroffen: das Gesundheitswesen und die Wirtschaft ebenso wie die Bereiche Bildung und Kultur.
Für viele Menschen ist dadurch ihr Vertrauen ins Leben, ihr Vertrauen in die Zukunft ins Wanken geraten. Ich denke an die vielen, die durch Corona Angehörige oder Freunde verlo-ren haben oder selbst mit allen Nachwirkungen von einer Erkrankung betroffen sind. Ich denke an alle, die besonders unter den Kontaktbeschränkungen leiden und sich einsam und verlassen fühlen. Ich denke an die vielen, die durch Corona ihren Arbeitsplatz verloren haben oder in wirtschaftliche Not geraten und in ihrer Existenz bedroht sind. Ich denke an die Kin-der und Jugendlichen, die ihre Bildungschancen und damit ihre Zukunft gefährdet sehen. Und an uns alle, die wir uns wieder unbeschwert mit unseren Angehörigen und Freunden treffen wollen – nicht nur zu Weihnachten.
Angesichts von Corona fühlen sich viele ohnmächtig und ausgeliefert. Weil Nähe und Begeg-nung – entscheidende Voraussetzungen, um Vertrauen aufbauen zu können – zurzeit nur sehr eingeschränkt möglich sind. Weil die Krankheit jeden treffen kann und uns so die Zer-brechlichkeit unseres Lebens drastisch vor Augen gestellt wird. Weil die weitreichenden Fol-gen der Pandemie immer deutlicher spürbar sind und wir immer mehr ahnen, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird – ohne zu wissen, wie sie danach aussehen wird. All das verunsichert und stellt unsere Fähigkeit, einander und dem Leben zu vertrauen, in Frage.
Das geht soweit, dass in aktuellen Protestbewegungen das lautstark ausgerufene Misstrauen eine neue Art von Gemeinschaftsgefühl heraufbeschwören soll: Misstrauen gegen die Regie-renden und die Notwendigkeit ihrer Hygiene- und Schutzmaßnahmen, Misstrauen gegen die Forscher und ihre Impfstoffe, Misstrauen gegen die öffentlichen Medien und wesentliche Institutionen unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Das kann in konsequente Wirklichkeitsverweigerung übergehen. Dabei könnte ein einziger Tag auf einer Intensivstati-on in dieser Corona-Zeit eigentlich jedem und jeder die Augen öffnen.
Auf Misstrauen ist keine Gesellschaft, keine Zukunft aufzubauen. Das bedeutet keineswegs, alles kritiklos über sich ergehen zu lassen. Im Gegenteil: Es fordert unsere positive Fähigkeit zu humaner Kreativität heraus. Gottlob ist die Zahl derer ungleich größer, für die Corona ein Anstoß ist, neu die Grundlagen unseres Zusammenlebens wie Rücksichtnahme und Solidari-tät in den Mittelpunkt zu stellen. Seit dem Ausbruch der Pandemie fragen sie sich, wie sie helfen können. Viele werden dadurch für andere zum Segen: Sie betreuen Kinder, deren El-tern vor Betreuungsproblemen stehen, sie übernehmen für ihre alten und kranken Nachbarn Einkaufsdienste. Sie stellen Abend für Abend Kerzen ins Fenster oder musizieren vor Alters-heimen, um anderen Trost und Hoffnung zu schenken. Sie setzen sich ein für die, die in die-ser Krise besonders viel für unsere Solidargemeinschaft leisten und wagen: für eine ange-messene Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen für Menschen in Pflegeberufen zum Beispiel.
Das ist für mich die erste wichtige Lernerfahrung aus Corona: Dass wir den Wert gelebter und umfassender Solidarität neu und tiefer erkennen. Eine überzogene Autonomievorstel-lung vom Menschen, wie sie aktuell in der Diskussion um die aktive Sterbehilfe von einigen vorgetragen wird, ist in dieser Krise in sich zusammengebrochen. Wir wissen, wie entschei-dend das soziale Verhalten eines jeden für die gemeinsame Bewältigung der Corona-Krise ist. Ich muss dem anderen vertrauen können, dass er seine Verantwortung ernst nimmt. Und dass er die Bereitschaft in sich trägt, die Lasten, die aus der Krise erwachsen, solidarisch mitzutragen. Nur mit solchem Vertrauen kann eine echte Hoffnung ohne gegenseitige Ver-werfungen für die Zeit in wie auch nach der Krise entstehen. Das gilt nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen: Ohne eine weltumspannende Solidarität vor allem mit den ärme-ren Ländern kann eine gute Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden nicht verwirklicht werden. Das beginnt ganz aktuell schon mit der Frage nach der Verteilung der Impfstoffe.
Im Advent beten wir die Vaterunser-Bitte um das Kommen des Reiches Gottes besonders intensiv. Jesu Vision einer geschwisterlichen Welt, wie sie uns Papst Franziskus in seiner En-zyklika „Fratelli tutti“ eindringlich vor Augen stellt, scheint mir der Schlüssel für die globale Zukunft zu sein. Sie einzubringen und unermüdlich mit aller Kreativität des uns gegebenen Geistes an ihrer Verwirklichung zu arbeiten, ist unsere unersetzbare Aufgabe als Christen. Ohne eine solche Vision kann das Entscheidende nicht entstehen oder erhalten werden: das gegenseitige Vertrauen, ohne das alle Gemeinsamkeiten zerbrechen und die Wahrheit der Willkür der Macht ausgeliefert wird.
„Mein Gott, dir vertraue ich!“ Die Krise bringt nicht nur unser Verhältnis zur Welt ins Wan-ken. Viel tiefer noch ist auch das Vertrauen in Gott bei vielen auf eine schwere Probe ge-stellt. Noch brisanter als sonst stellt sich in Corona-Zeiten für gläubige Menschen die Frage: Wo bist Du, Gott, angesichts der vielen Todesopfer und Infizierten? Wie kannst Du es zulas-sen, dass so viele Menschen – vor allem die Armen und Schwachen – unter den Folgen lei-den und in ihrer Existenz bedroht sind?
Manche sagen: Corona ist eine Strafe Gottes. Schickt er uns das Virus, um eine gottlose Welt abzustrafen? Die Heilige Schrift spricht ja an verschiedenen Stellen vom Zorn Gottes und den Strafen, die für die Menschen daraus folgen. Die erste Lesung aus dem Buch Jesaja, die wir eben gehört haben, bringt uns auf eine andere Fährte. Hier geht es nicht um einen willkür-lich strafenden Gott. Im Gegenteil. Der Prophet wendet sich in einem Akt des Vertrauens an den lebendigen Gott: „Du, Herr, bist unser Vater. ‚Unser Erlöser von jeher‘ wirst du ge-nannt.“ (Jes 63,16) Der Augenblick der Krise und der existentiellen Not führt ihn aber zu ei-ner entscheidenden Selbsterkenntnis: „Unsere ganze Gerechtigkeit ist wie ein schmutziges Kleid.“ (Jes 64,5) Die Krise lässt ihn aufwachen: Wie nur konnte unser Herz so hart werden? Sie wird zum Anlass, über den praktizierten Lebensstil nachzudenken – und über die Konse-quenzen, die er in sich trägt. In diesem Moment des Aufwachens zu sich selber tritt Gott aus der Verborgenheit heraus in das Licht seiner Gegenwart. Ein für alle Mal: Nein, er will nicht den Tod, er will das Leben der Menschen. Er ist doch der Vater aller Menschen – und wir Brüder und Schwestern, „fratelli tutti“.
Nachdenklich – das soll uns diese Krise machen. Aber nicht in pauschaler Schuldzuweisung, nicht schwarz-weiß, sondern in ehrlicher Selbsterkenntnis. Gott will nicht strafen, sondern uns wach machen und für eine bessere Zukunft öffnen. Krisen sind im Leben immer wesent-liche Anlässe zu Neubesinnung und Umkehr. Sie können Prozesse des Aufwachens und der Veränderung beschleunigen: in der Gesellschaft wie auch in der Kirche.
Corona ist nicht der Grund der vielfältigen Krisen unserer Zeit. Aber das Virus beschleunigt die Notwendigkeit, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das gilt gerade auch für uns als Kir-che. Im November hat zum ersten Mal unsere Diözesanversammlung als das synodale Gre-mium des Bistums getagt. Uns allen ist bewusst, was für Herausforderungen auf uns zu kommen. Nur wenn wir uns ihnen stellen, kann das Vertrauen in die Zukunft wachsen. Nur so kann Gott uns Visionen schenken, wie und wo wir zum Segensort in dieser Welt werden kön-nen.
Liebe Schwestern und Brüder, dieses Weihnachtsfest werden wir nicht wie gewohnt feiern können. Gerade an diesem Fest hängen so viele Traditionen, Erinnerungen, Gefühle. Aber vielleicht bietet das Herausgerissen-Werden aus den gewohnten Bahnen auch eine Chance. Ist nicht der Sinn des Festes, dass Gott seine „gewohnten“ Bahnen verlässt und sich in unsere verletzbare Welt hineinbegibt mit Haut und Haaren? Dass er wie ein kleines Kind um unser Vertrauen wirbt, damit wir uns nicht vor ihm fürchten, sondern Mut zur ungeschminkten Wahrheit und zur solidarisch gelebten Liebe finden?
Das ist für mich eine zweite, geistliche Lernerfahrung der Corona-Pandemie: Dass wir als Kirche unser Vertrauen nicht zuerst und schon gar nicht allein in uns selbst, in unsere etab-lierten Strukturen, überkommenen Traditionen und gewohnten Rituale setzen, sondern in den Kern unserer Botschaft. Und dass wir uns von dorther erneuern lassen – von Grund auf, damit die Menschen wieder auf unseren wunderbaren, menschenliebenden Gott ihr Ver-trauen setzen können.
So wünsche ich uns allen in diesem Advent, dass das Licht der Hoffnung in uns wachse und der Heiland uns die Himmel aufreiße, damit wir „dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt.“ (Alfred Delp)

Ihr Bischof Karl-Heinz Wiesemann

 

Hier der Link zum Hirtenwort-Download: https://www.magentacloud.de/share/o.0kphpz7t

Das Video kann alternativ auch direkt über YouTube gestreamt werden: https://youtu.be/ODlMzznESmg  

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