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Hirtenbrief

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von Bischof Dr. Wiesemann zur österlichen Bußzeit 2023

Liebe Schwestern und Brüder!

Mit den vierzig Tagen der Vorbereitung auf Ostern rückt wieder das Fasten, das bewusste Maßhalten und Verzichten auf sonst in unserem Alltag Selbstverständliches, ins gemeinsame Bewusstsein. Die Einübung in Fasten und Verzicht gehört fest zur menschlichen Religions- und Kulturgeschichte. Das Fasten Jesu als Vorbereitung auf sein öffentliches Wirken reiht sich in das Fasten vieler religiöser Gestalten ein. Es bildet neben Gebet und Almosen den Grundbestand dessen, was Frömmigkeit ausmacht. Sicherlich hat es zu jeder Zeit Übertreibungen und Verzerrungen dieser gläubigen Praxis gegeben: eine rigorose Leibfeindlichkeit oder auch veräußerlichte Ritualisierung. Die Propheten wie auch Jesus üben scharfe Kritik an bestimmten Formen des Fastens, die nur der eigenen Zurschaustellung dienen. Und gegenüber allen, die scheinbar fromm die Fastengebote einhalten, den Nächsten aber unterdrücken und ausbeuten, wird die Kritik vernichtend: All eure Opfer sind mir ein Gräuel (vgl. Jes 1,13). Das ist „ein Fasten, wie ich es wünsche: die Fesseln des Unrechts zu lösen, … dem Hungrigen dein Brot zu brechen, obdachlose Arme ins Haus aufzunehmen, (und) wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden“ (Jes 58,5ff).

Mit der Schärfe dieser Kritik rückt der tiefe, bleibende Sinn des gläubigen Fastens in den Mittelpunkt: Der Mensch nimmt sich selbst aus freien Stücken bewusst zurück, damit Gott, der Urheber allen Lebens und aller lebendigen Beziehungen, wieder in den Mittelpunkt treten kann. Er nimmt sich selbst zurück, um dem großen Miteinander allen Lebens zu dienen. Durch das bewusste Fasten und Verzichten übt sich der Mensch in eine Haltung der Demut ein: in eine Haltung, nicht alles haben und konsumieren, nicht alles machen und beherrschen zu können, nicht alles dem eigenen Narzissmus unterordnen zu wollen. Durch das Fasten kann Gott wieder Kraft in unserem Leben gewinnen. Es kann uns Augen und Ohren öffnen für die vielen, denen es am Notwendigen fehlt. Es kann uns das Herz öffnen, Brot und Leben mit ihnen zu teilen. Das Fasten öffnet den Raum für die befreiende Reich-Gottes-Botschaft Jesu. Daher hat Jesus gefastet und sich der Versuchung ausgesetzt, bevor er mit Vollmacht sein Evangelium in die Welt getragen hat: „Das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15)

Aber, so könnte man einwenden, kommt dieses Plädoyer für das Fasten nicht zur Unzeit? Haben wir nicht in den zurückliegenden Jahren der Pandemie so weitgehenden Verzicht auferlegt bekommen, vor allen in den Lockdown-Zeiten, dass es doch jetzt eher um die Freude über die Aufhebung der Corona-Maßnahmen, um das Nachholen des Entbehrten geht. Am Ende von Pandemien muss doch das Fest und nicht der erneute Verzicht stehen. Doch solche Freude, wenn sie nicht nur aus Konsumrausch bestehen soll, will sich nicht wirklich tragfähig einstellen. Nicht nur, weil die Krankheit mit dem Ende der Maßnahmen nicht einfach überwunden ist. Sondern, weil so viele andere schwerwiegende Probleme sich im Zusammenleben auf unserem Planeten aufgetan oder verschärft haben. Fasten und Verzicht stehen für viele aus ganz anderem Grund auf der Tagesordnung – nicht als freiwillige Frömmigkeitsübung, sondern weil sie schlichtweg mit ihrem Einkommen nicht mehr auskommen, die Inflation und hohe Energiekosten an der existentiellen Grundlage rütteln und der Krieg in der Ukraine seine verheerenden Auswirkungen zeigt.

Gerade in dieser Situation erweisen die drei Säulen der Frömmigkeit ihre Tragkraft: Gebet, Fasten und Almosen. Im Gebet verbinden wir uns mit dem Gott, der sich in Jesus Christus mit allen, die Gewalt und Unrecht erleiden, identifiziert hat. Das Gebet, ob persönlich oder gemeinsam und öffentlich, hat Kraft, weil es dem Machtwahn des Menschen die Herrschaft Gottes entgegensetzt und den Raum für die größere Gerechtigkeit seines Reiches öffnet.

Das gleiche gilt von der zweiten Säule, dem Fasten. Das Wertvolle daran ist, dass es bewusst geschieht: ein bewusster Akt der Solidarität mit allen, denen das Nötigste zum Leben verwehrt ist. Ein bewusster Akt des eigenen Verzichtes, um der gesunden Balance des Ganzen willen, des Zusammenwohnens aller in dem einen Haus der Schöpfung.

Damit hängt die dritte Säule des Lebens aus dem Glauben zusammen: das, was die Bibel Almosen-Geben nennt – das persönliche Opfer zur Linderung der Not, die konkrete eigene Beteiligung am Aufbau einer gerechteren Welt. In jeder Fastenzeit leisten wir mit der Misereor-Kollekte einen wichtigen Beitrag hierfür. Katastrophen wie das Erdbeben in der Türkei und Syrien fordern unsere Solidarität und Hilfe zusätzlich heraus. Schon heute möchte ich auf die Sonderkollekte am nächsten Sonntag für alle, die von diesem verheerenden Beben getroffen sind, hinweisen und allen Spendern von Herzen danken.

Liebe Schwestern und Brüder, manchmal habe ich den Eindruck, unsere Welt droht aus den Fugen zu geraten. Immer schon musste das Macht- und Geltungsstreben, die Habsucht und Gier sowie der Narzissmus des Menschen in zivilisierte Bahnen gelenkt werden. Der Machtwahn, der sich an kein Völkerrecht hält und jetzt im Ukrainekrieg offenbar wird; die Besitzgier, die viele ignorant sein lässt gegenüber den Bedrohungen des Klimawandels und der himmelschreienden Ungerechtigkeit, dass die ärmsten Länder am meisten darunter zu leiden haben; der zur Schau getragene Narzissmus gewisser Typen im Machtspiel dieser Welt – all das nährt das ungute Gefühl, dass Hemmschwellen immer weiter absinken. Ohne die kann es aber keine zivilisierte Gesellschaft, keine Humanität geben.

Gegen diese Enthemmung hat die Kirche immer schon visionär die drei evangelischen Räte gesetzt. Es geht um Weisungen und Ermutigungen, aus dem Evangelium Jesu Christi, aus seiner Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes heraus, das eigene Leben umzugestalten. Die drei Räte lauten: Gehorsam, Armut und Keuschheit. Natürlich müssen auch sie richtig verstanden und gelebt werden. Auch sie leiden unter geschichtlichen Engführungen und Verzerrungen. Heute verstehen wir tiefer, wie ein falsch verstandener Gehorsam sowie eine auf den Bereich der Sexualität fixierte Keuschheit geradezu zu Perversionen der erlösenden und befreienden Botschaft Jesu geführt haben. Bis dahin, dass auch auf diese Weise der Boden bereitet wurde für sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche. Gerade auf diesem sehr ernsten Hintergrund ist es wichtig, Irrwege zu korrigieren und den tieferen Sinn der evangelischen Räte wiederzuentdecken und zum Leuchten zu bringen.  

Alle drei Räte sind von einem gewissen Verzicht geprägt. Wer nach dem Rat des Gehorsams zu leben sich bemüht, bittet wie König Salomon um ein hörendes Herz. Denn nur wer hört, kann auf rechte Weise Macht ausüben. Er macht sich nicht selbst zum Mittelpunkt, sondern bindet sich an Gott und seine Herrschaft. Er hört auf den Geist, der dem ganzen Volk Gottes verliehen ist. Wer nach dem evangelischen Rat der Armut zu leben sucht, der übt sich darin ein, seine Geltungs- und Besitzansprüche, seinen Lebensstil zu überdenken aus Liebe zur Schöpfung und aus Solidarität mit den Armen dieser Welt. Wer nach den evangelischen Räten zu leben sucht, der übt eine „keusche“, das heißt, nicht von der eigenen Begehrlichkeit geprägte, achtsame Geistes- und Lebenshaltung ein. Der gewinnt eine Liebe, die den Anderen aus seinem gottgeschenkten Ursprung um seiner selbst willen achtet und ehrt und ihn in Freiheit und Eigenverantwortung seinen eigenen Weg finden lässt.

Wir brauchen eine geistige Erneuerung in unserer Welt, eine Spiritualität, die aus der Achtung vor Gott und der „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) geboren ist. Die Kirche hat so sehr an Glaubwürdigkeit verloren, dass ihr spiritueller Schatz, wie er sich in den Säulen der Frömmigkeit und den evangelischen Räten zeigt, kaum noch zum Leuchten kommt. Das Einüben in bewusstes Fasten und Verzichten ist nicht nur eine Aufgabe für den einzelnen Gläubigen, sondern für die ganze Kirche. Deswegen ist der Weg der Synodalität hier in Deutschland wie auch weltweit als geistliche Erneuerung so wichtig, die Mut macht zu einer grundlegenden Reform aus den evangelischen Räten heraus.  

Denn es entspricht zutiefst dem Evangelium, wenn das Führen und Leiten wieder stärker an das Hören gebunden wird. Das ist ein Verzicht auf Macht um des Evangeliums willen. Es entspricht dem Umkehrruf des Evangeliums, wenn sich nicht zuerst um das eigene Ansehen und den eigenen Machterhalt gesorgt, sondern aus der Perspektive der Betroffenen von Unrecht, Gewalt und Leid her gedacht, empfunden und gehandelt wird. Das ist ein Verzicht auf Selbstschutz und Besitzstandwahrung um des Evangeliums willen. Und es entspricht dem Evangelium, wenn die Achtung und Ehrfurcht voreinander gegen jede Art von Übergriffigkeit und die Qualität der Beziehung zum entscheidenden Markenkern christlicher Liebe wird und nicht Lasten geschnürt werden, unter denen sich Menschen ausgegrenzt und diskriminiert fühlen. Das ist ein Verzicht auf jede Art von Anmaßung und Kontrolle um des Evangeliums willen.

Liebe Schwestern und Brüder, unsere Welt braucht nicht nur Waffen, sondern vor allem geistige und moralische Kraft, sich gegen alle zerstörerischen Mächte zu stellen. Das geht nicht ohne Einübung in den Verzicht, ohne spirituelle Grundlegung. Der geistliche Schatz, der der Kirche anvertraut ist, kann hier Wertvolles beitragen. Überall, wo wir uns so als Kirche aufmachen und geistlich erneuern, können wir Hoffnungszeichen in die Welt senden. Dann werden wir wieder mehr zu dem, wohin uns unsere Vision führen will: ein Segensort für die Menschen und ihren Weg in die Zukunft. Die Fastenzeit vor Ostern bietet uns dazu wieder eine neue Chance. Dazu segne uns der lebendige Gott, der uns in Christus durch den Tod ins Leben führt.

Ihr Bischof  

+ Dr. Karl-Heinz Wiesemann

 

Video mit dem Hirtenwort von Bischof Wiesemann:
Magentacloud: https://magentacloud.de/s/B6FeQEqqDGwxmiE
Youtube: https://youtu.be/ZlBquGG3bTQ

 

 

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Bildnachweis: Klaus Landry / Bistum Speyer