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Hirtenbrief

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von Bischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann zur Österlichen Bußzeit 2025

„Pilger der Hoffnung“

Liebe Schwestern und Brüder!
„Pilger der Hoffnung“ – so lautet das Leitwort des Heiligen Jahres, das die weltweite Kirche in diesem Jahr  begeht. „Pilger der Hoffnung“ – damit ist ein Nerv unserer Zeit getroffen, blicken Umfragen zufolge doch viele  Menschen eher pessimistisch in die Zukunft. Uns Christen ist damit die entscheidende Perspektive gegeben,  wie wir heute Zeuginnen und Zeugen des Evangeliums Jesu Christi sein können und sollen.

Ein solcher „Pilger der Hoffnung“ ist zuerst unser Papst Franziskus selber, der der Kirche dieses Leitwort zum Heiligen Jahr geschenkt hat. Das zeigt sich nicht nur in diesen Tagen seiner Krankheit, die wir mit unseren Gebeten begleiten. Sein ganzes Leben fasst sich in diesem Symbol zusammen – bis hinein in seine familiären  Wurzeln als Kind einer Auswandererfamilie, die im vergangenen Jahrhundert aus dem italienischen Piemont  ins ferne Amerika aufbrach und in Argentinien eine neue Heimat fand. Mich hat die Lektüre seiner kürzlich erschienenen Autobiographie mit dem programmatischen Titel “Hoffe“ sehr berührt. Da spürt man  unmittelbar, wie sehr sein ganzer Lebensatem von der Hoffnung geprägt ist; gerade bei ihm, dem eine Krankheit schon früh den Teil eines Lungenflügels genommen hatte. „Hoffe“ – Das dringt durch wie das Atmen  des Leibes, in dem der Wille zum Leben, zum Überleben unmittelbar spürbar wird. „Hoffe“ – Das ist  kein moralischer Appell. Das ist Lebenskraft, die selbst in den größten Katastrophen und aussichtlosesten  Situationen Hoffnung atmet.

Deshalb hat es ihn sein Leben lang an die Ränder getrieben. Er wollte nicht nur, er musste dorthin, wo die  schlimmsten menschlichen Katastrophen und hoffnungslosesten Wirklichkeiten sich zeigen. Sehr bewegend ist in seiner Lebensbeschreibung der Abschnitt, wie er trotz massiver Warnungen – aus Sorge um seine Sicherheit – unbedingt in den Irak reisen wollte, ja  musste. Man spürt beim Lesen regelrecht den aus Liebe drängenden Atem, der ihn auch unter dem Wagnis des eigenen Lebens an diesen Ort trieb. Gerade in dieser  offenen Wunde der Welt wollte er den verbliebenen Christen ein unmittelbares Zeichen des Nichtvergessen-Seins und der Solidarität geben und mit einem interreligiösen Treffen einen Weg der Hoffnung trotz aller Ausweglosigkeit eröffnen, einen Weg tief verbindender Menschlichkeit.

Hier zeigt sich, wie eng die Gestalt des Pilgers mit der Tugend der Hoffnung verbunden ist: Pilger sein heißt,  ganz aus der Hoffnung zu leben. Erst die Hoffnung gibt dem Glauben eine lebendige Dynamik. Nur die  Hoffnung eröffnet Zukunftsperspektiven. Allein in der Hoffnung erfährt der Mensch das Kostbarste, was ihm  gegeben ist: seine Freiheit und seine Würde. Menschen machen sich auf den Weg und brechen aus der  ungerechten Schicksalhaftigkeit ihres Lebens auf, nicht selten, weil ihnen nichts geblieben ist außer der  Hoffnung. Auf die großen Flüchtlingsbewegungen unserer Zeit nur mit dem Mittel der eigenen Abschottung  und Sicherung der Grenzen zu antworten, bedeutet, diese letzte Erfahrung von Freiheit und Würde in eine  hoffnungslose Lethargie zu verbannen und damit dem willkürlichen Machtspiel der Mächtigen das Feld zu überlassen.

Was unsere Welt dagegen überall braucht, ist Hoffnung, damit die Seele atmen kann. Damit eine Kultur der  Menschlichkeit aufscheint, die die guten Kräfte in uns weckt und ermutigt. Natürlich weiß ich auch, wie  komplex manche gegenwärtigen Probleme sind. Wie überfordert wir bei allem Willen zum Helfen sind  angesichts der globalen Krisen. Sie werden sich im Zuge der aktuellen Verschiebung der politischen  Weltordnung und vielmehr noch angesichts der Auswirkungen der ökologischen Krise unseres Planeten in  Zukunft eher noch verschärfen. Umso wichtiger wird unser Glaube an den Gott, dem seine Schöpfung nicht gleichgültig ist und der uns die Vision einer erlösten Welt ins Herz eingesenkt hat. Er beruft uns alle gerade  angesichts der oft unlösbar scheinenden Probleme zu Pilgern der Hoffnung in unserer Zeit. Diese unbändige  Leidenschaft für die Menschheit, ihre Würde und Hoffnung habe ich in nahezu jeder Zeile der Autobiographie unseres Papstes gespürt. Sie kann einen nicht gleichgültig lassen. Sie weiß, dass sie nicht alle Probleme lösen  kann, aber sie setzt Zeichen. Mögen diese auch klein sein und ohnmächtig erscheinen. Aber sie lassen die  Hoffnung nicht sterben. Sie wehren der Gleichgültigkeit und dem Fatalismus, die der Nährboden für die  ungehemmte Ausbreitung willkürlicher, menschenverachtender Gewalt sind. Für dieses Lebenszeugnis der Hoffnung gerade in unserer Zeit bin ich unserem Papst zutiefst dankbar.

Pilger sein und Hoffnung haben sind also ein und dasselbe. Beides lebt aus der Kraft zum Aufbruch aus der lähmenden Ohnmacht heraus. Hier findet sich der Ursprung aller echten Freiheitserfahrung, ihr  lebenserfüllender Sinn. Der Aufbruch aus Ägypten, die Befreiung aus dem Sklavenhaus in das unbekannte verheißene Land, ist die religiöse Ursprungserfahrung Israels. Ihr Symbol ist der Gang durch die Wüste.  Nirgendwo hat Israel seinen Glauben so tief gelernt wie in der Wüste; so unmittelbar erfahren, dass Freiheit  und Würde auf Leben und Tod von der Hoffnungskraft des Glaubens abhängen – oder im Zurücksehnen nach  den vermeintlichen „Fleischtöpfen Ägyptens“ sinnlos verenden. So wie beim Aufbruch Abrahams und seiner  Familie die Frau des Lot im Zurückschauen zur Salzsäule erstarrt, hart und verbittert. „Retrotopie“ nannte das im Gegensatz zur nach vorne schauenden Utopie der 2017 verstorbene Soziologe und Philosoph Zygmunt  Bauman. In seinem letzten Werk beschreibt er, wie die Menschen angesichts der Überforderung durch globale Krisen und kriegerische Gewaltausbrüche den Glauben an eine humane Zukunft für alle verlieren und  stattdessen sich in die eigene, verklärte Vergangenheit und nationale, ethnische oder religiöse Identität zurückziehen. Die Folgen seien zunehmende Härte und Verbitterung, die in Aggressivität und Hass gegen „die Anderen“, Fremden, Andersgläubigen, Schutzsuchenden umschlügen.

Israel hingegen wird von Gott immer wieder an seine Wüstenerfahrung erinnert. Daran, dass sie selbst  Fremde waren. Unmissverständlich lesen wir im Buch Levitikus: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll  euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in  Ägypten gewesen. Ich bin der HERR, euer Gott.“ (Lev 19,34). Und auch die Vision des Neuen Testamentes ist  eindeutig von der Hoffnung auf eine humane Zukunft aller bestimmt, ohne ethnische oder andere  Unterschiede, denn wir sind „alle einer in Christus Jesus“ (vgl. Gal 3,28).

Das war auch die bestimmende Vision des Aufbruchs der Kirche im II. Vatikanischen Konzil: „Freude und  Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten, sind auch  Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (GS 1) 60 Jahre nach dem Ende des Konzils ist  die visionäre Kraft dieser Zeilen ungebrochen aktuell. Die Weggemeinschaft mit allen Menschen, die als Pilger  der Hoffnung unterwegs sind, lässt die Kirche zur „Keimzelle der Hoffnung“ und zum „Zeichen und Werkzeug“ für die Versöhnung und Einheit der Menschheit werden. Das genau meint im Wortsinn Synodalität, die  unserem Papst für die Kirche von heute so wichtig ist: keinen Lobbyismus einzelner, sondern eine alle mitbeteiligende Weggemeinschaft als gemeinsame Pilgerschaft der Hoffnung für die Welt.

Liebe Schwestern und Brüder!
Jedes Jahr brechen wir in der Fastenzeit als österliche Pilger neu auf. Wir spüren, wie die Wüstenerfahrung  Israels auch unser Leben immer deutlicher bestimmt. Auch wir sind hin und her getrieben zwischen Hoffnung  und Angst – sowohl im Blick auf unsere Welt und Gesellschaft als auch auf unsere Kirche. Wie Israel müssen  wir die Mangelerfahrung der Wüste als den Ort der intensiveren Gotteserfahrung entdecken. Und wie bei Jesus gilt es dabei zahlreiche Versuchungen zu bestehen. Die größte unter ihnen ist die Hoffnungslosigkeit,   die am Ende nicht nur den Menschen, sondern auch Gott nichts mehr zutraut. Auch wir müssen uns in unserer  Diözese auf diesen, unseren Glauben an den Gott des Lebens herausfordernden Wüstenweg machen. Wir werden kleiner und haben weniger Mittel. Umso hoffnungsfroher macht mich die intensive Beteiligung so  vieler, die ich momentan auf dem Weg zu einer Neuausrichtung unserer pastoralen Räume erlebe.

Manchmal bin auch ich angesichts der sich anhäufenden Krisen und Katastrophen rat- und mutlos. Da tröstet  mich das Bild vom Pilger der Hoffnung. Seine Aufgabe ist nicht, alle Probleme zu lösen – daran müsste er scheitern –, sondern nur immer neu den nächsten Schritt zu tun; schlicht und einfach an dem Ort, wo er  gerade ist. Das erscheint winzig und unbedeutend. Aber er weiß darum, dass in den Herzen so vieler anderer  dieselbe Sehnsucht und Hoffnung atmet, die ihn vorantreibt. Und in ihm formt sich ein neues Bild von Kirche,  vom wandernden Gottesvolk als einer gewaltigen Schar von Pilgern der Hoffnung. Nie wird der Geist Gottes aufhören, Hoffnung in die Herzen der Menschen zu säen. Solange Menschen atmen, werden Pilger der  Hoffnung geboren. Sie leben davon, dass sie nicht allein sind. Sie leben von Menschen wie unserem Papst  Franziskus. Ihre Hoffnung hofft auch auf solche wie Sie und mich. Es ist wie mit dem Licht in der Osternacht. Es ist nur das eine Licht dessen, der den Tod besiegt hat – aber es wächst mit jeder und jedem, die es in die Welt tragen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein in froher Hoffnung gesegnetes Osterfest.

Ihr Bischof

+ Dr. Karl-Heinz Wiesemann

 

Video mit dem Hirtenwort von Bischof Wiesemann:
Magentacloud: https://magentacloud.de/s/L5fid4YJdBrHXCc
Youtube: https://youtu.be/9tBV4PD9fZQ

 

 

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