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Urteilen

Erstellt von Christiane Gegenheimer, Pastoralreferentin | |   Impulse

Wir sind Durchblicker. Und Faktenchecker. Wissen alles - jedenfalls (fast) alles besser. Wow, wie gut!

Alle anderen haben keine Ahnung - bei mir hingegen läuft es!

Und? Wie ist es da oben?
Da kann ich gut runterschauen - auf die anderen, die es eindeutig falsch machen.
Ich bin ja moralisch voll auf der richtigen Seite.

Das ist ein gutes Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Auf andere mit dem Finger zu zeigen und sie in einer Schublade zu versenken. Eindeutig schuldig. Die Experten und ich sind uns einig. Wir haben ja die Ahnung.
Und dann lese ich das heutige Evangelium und merke: Oh: ich weiß es nicht besser. Ich darf mir nicht anmaßen, ein Urteil zu fällen, denn ich kenne mich in vielen Fragen gar nicht wirklich aus.

Und ich frage mich, kann ich, können wir in unserer Gemeinde vor lauter Aufregung über die Fehler, Versäumnisse und die Sünde der anderen überhaupt noch unsere eigene Schuld, unser eigenes Versagen erkennen?

Was tut Jesus, als er geprüft werden soll auf seine Gesetzestreue?
Verurteilt er das offensichtliche Unrecht? Wie geht er mit dem Versagen der Frau um?
Lässt er einen Shitstorm, ach nein, früher wäre es ein Steinhagel gewesen, also lässt er einen solchen über die Ehebrecherin hereinbrechen?

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie!

Und jetzt gehen sie - die moralisch Guten, die, die auf der richtigen Seite des Gesetzes stehen.
Einer nach dem anderen. Denn so unehrlich sind sie sich selbst gegenüber dann doch nicht. Ja, auch sie befolgen das Gesetz nicht zu 100% - schaffen es nicht, immer gut und richtig zu handeln - sind moralisch nicht vollkommen überlegen.

Jesus ist ohne Sünde - trotzdem bückt er sich, schreibt in den Staub. Urteilt nicht vom hohen Ross aus.
Jesus begibt sich auf die Ebene der Sünderin. Und erinnert uns, was erstmal wichtig ist: die Begegnung suchen, auf Augenhöhe. Jesus schaut ins Herz, das die Frau ihm offen hinhält. Jesus weiß, dass sie gesündigt hat. Daran lässt er keinen Zweifel. Die Ehebrecherin hat versagt.
Trotzdem verurteilt Jesus nicht. Er vergibt.

Doch Moment, da geht es nicht um "billige" Gnade. Vergebung bei Jesus bedeutet nicht, dass Sünde nicht so schlimm ist. Doch, das ist sie, denn Sünde zerstört: Beziehungen - zwischen Menschen und von Mensch zu Gott. Und Jesus zahlte einen hohen Preis, den höchsten: Ihn haben am Ende alle Steine und Peitschenhiebe, ja der Tod getroffen. Einfach so weitermachen wie bisher, das geht nicht, wenn ich begreife, was Jesus für mich persönlich getan hat. Seine Vergebung möchte Veränderung und Heilsein bei dem Menschen bewirken, dem die Vergebung widerfährt.

Geh hin und sündige fortan nicht mehr!

Mit diesen Worten schickt Jesus die Frau weg.
Stellt es in ihre Verantwortung, die Chance zu nutzen.
Einen Neuanfang in Gottes Liebe zu wagen. Sich auf ihn hin auszurichten.

Obwohl er es also könnte, verurteilt Jesus nicht! Er ermöglicht einen Neuanfang!
Wow! Daran will ich mich ausrichten: nicht so schnell mit dem Finger auf andere zeigen, sondern mein eigenes Herz dem barmherzigen Gott hinhalten. Nicht die moralische Keule schwingen. Schon Unrecht als Unrecht benennen, doch den Menschen und seine Seele, sein Heil nicht aus dem Blick verlieren.

Jesus verurteilt die Sünde, aber liebt die Sünderin! Das sehe ich nun klarer.
Ich wünsche mir was: Ein bisschen mehr wie Jesus sein. Dort, wo ich lebe, wo ich gerade bin. Das ist schon schwer genug. Doch es täte uns bestimmt allen gut.

Shalom!
Christiane Gegenheimer

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Lucas_Cranach_d.Ä._-_Christus_und_die_Ehebrecherin__Fränkische_Galerie_.jpg
Lucas Cranach der Ältere, Jesus und die Ehebrecherin (ca. 1520), gemeinfrei via wikicommons